Denkmaldatenbank

Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung mit Direktorenwohnhaus und Mitarbeiterwohnhaus

Obj.-Dok.-Nr. 09090541
Bezirk Pankow
Ortsteil Buch
Adressen Robert-Rössle-Straße 10
Denkmalart Gesamtanlage
Sachbegriff Institutsgebäude & Wohnhaus & Direktorenwohnhaus
Datierung 1929-1931
Entwurf Sattler, Carl

Im nordöstlichen Teil des Campusgeländes befindet sich das 1931 eröffnete Institut für Hirnforschung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG), Robert-Rössle-Straße 10. Das Gebäudeensemble aus hell verputzten kubischen Baukörpern, die mit klar gegliederten Fassaden im Stil der Neuen Sachlichkeit gestaltet sind, wurde 1928-30 nach Entwurf des damaligen Hausarchitekten der KWG, dem Münchner Carl Sattler, ausgeführt. (1) Die Bauten stellen ein bedeutendes, in seiner äußeren Erscheinung, seinen baulichen Strukturen und mit vielen architektonischen Details erhaltenes Zeugnis für die Geschichte derHirnforschung, der Genetik und der Psychiatrie dar, für die hier entscheidende Grundlagenforschungen betrieben wurden. Darüber hinaus dokumentiert das Institutsgebäude zusammen mit den in Dahlem erhaltenen Bauten der 1911 zur Förderung der Wissenschaften gegründeten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft die international führende Rolle der deutschen Spitzenforschung im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Während der Zeit des Nationalsozialismus war das Bucher Institut jedoch, ebenso wie die Städtische Heil- und Pflegeanstalt, durch die Verstrickung in die so genannte Euthanasie-Aktion auch ein Ort des Verbrechens. (2) Ein Mahnmal der Künstlerin Anna Franziska Schwarzbach auf dem Gelände erinnert an die Opfer und an die Schuld, die skrupellose Forscher auf sich geladen haben. (3)

Die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung des Hirnforschungsinstituts, das 1931 mit dem Neubau zum weltweit größten seiner Art wurde, ist vor allem mit dem Psychiater und Neurologen Oskar Vogt verbunden. Bereits 1914 zum ersten Leiter berufen, hat Vogt mit seinen wissenschaftlichen Mitarbeitern, darunter seine Frau Cécile, die Basis der modernen Hirnforschung, vor allem in den Bereichen Hirnanatomie und -physiologie sowie empirische Psychologie, geschaffen. (4) Dabei war insbesondere ihr interdisziplinärer Ansatz neu und zukunftsweisend. Das Institut bestand aus insgesamt elf Abteilungen. (5) Dazu gehörte auch eine von der benachbarten Heil- und Pflegeanstalt mitversorgte neurologische Forschungsklinik. Die Zusammenarbeit mit den Bucher Kliniken war Voraussetzung für die Standortentscheidung Vogts gewesen. Oskar Vogt wurde 1935 von den Nationalsozialisten als Leiter der Einrichtung abgelöst und musste 1937 sein Institut verlassen.

Neben der Arbeit des Ehepaars Vogt hat es weitere wissenschaftliche Höhepunkte im Institut für Hirnforschung gegeben: die Untersuchungen zur Populationsgenetik und zur Mutationsforschung in der Abteilung für Experimentelle Genetik unter Leitung des russischen Biologen Nikolai Wladimirovich Timoféeff-Ressovsky und seiner Frau Aleksandrovna (6) und der Bau des ersten Elektroenzephalographen in den Abteilungen Neurophysiologie und Physikalische Technik. (7)

Das Raumprogramm und die Architektur der Gebäude entwickelte der Architekt Carl Sattler nach den Vorgaben des Institutsleiters, wie es das so genannte Harnack-Prinzip für alle KWG-Institute vorsah. (8) Für das umfangreiche und vielgliedrige wissenschaftliche Programm wünschte Oskar Vogt ein einziges, möglichst großes Haus, in dem alle Abteilungen für eine enge Zusammenarbeit gemeinsam untergebracht werden konnten. Dafür entwarf Sattler einen schlichten, lang gestreckten sechsgeschossigen Bau, der in Ost-West-Ausrichtung vielen Laborräumen das für das Mikroskopieren nötige Licht von Norden ermöglichte. Das westliche Gebäudeende beherbergte den so genannten "Sammlungsturm", in dem das Archiv, die Bibliothek und insbesondere die Sammlung von Gehirnen und Präparaten besonders gesichert aufbewahrt werden konnten. (9) Der um ein Stockwerk höhere Bauteil war in den einzelnen Etagen nur durch spezielle Feuerschutztüren und mit einem erhöhten Fußbodenniveau über einige Stufen zu betreten. Für die Abteilung Experimentelle Genetik fügte der Architekt an die Südseite des Gebäudes einen zweigeschossigen Anbau mit den Gewächshäusern für das "Genetische Vivarium" an, den Arbeitsort Timoféeff-Ressovskys. (10) Drei eingeschossige Anbauten beherbergten unter anderem den Hörsaal, die Werkstatt und eine Druckerei. Zwei separate Wohnhäuser, ehemals für Direktor und Mitarbeiter gedacht, stehen südwestlich des Institutsgebäudes, die südöstlich gelegene damalige Neurologische Klinik, die nach dem Zweiten Weltkrieg durch Um- und Erweiterungsbauten stark verändert wurde, war durch einen überdachten Gang mit dem Hauptbau verbunden. Alle Gebäude gestaltete Sattler einheitlich in kubischen Formen mit leicht überstehendem Flachdach und rotem Ziegelsockel, die wohlproportionierten Baukörper gliederte er allein durch den gleichmäßigen Rhythmus der Fensterreihen. Baukünstlerische Zutaten am Institutsgebäude wie der erhaltene Eingangsbereich sowie Türrahmen und Treppenhäuser im Inneren zeigen Gestaltungen aus dem spätexpressionistischen Formenkreis. Wie auch bei den Dahlemer KWG-Bauten zu erkennen, zeichnet sich Carl Sattler als Architekt dadurch aus, dass er den Bedürfnissen der jeweiligen Nutzer eine angemessene Form zu geben wusste und sich in der funktionalen Gliederung ebenso wie in der Gestaltung der Bauten komplett den Vorstellungen der Wissenschaftler unterordnete. So entstand das etwa zeitgleich in Dahlem errichtete Institut für Otto Warburg als Herrenhaus mit Rokokoformen, während der Bau für Oskar Vogt, der auf Sparsamkeit und eine effiziente Raumausnutzung Wert legte, im Stil der Neuen Sachlichkeit gestaltet ist. Der Bronzekopf der Minerva, römische Göttin der Weisheit, nach Entwurf des Bildhauers Carl Ebbinghaus über dem Haupteingang ist als Wahrzeichen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft auch an anderen Institutsbauten Sattlers zu finden. (11)


(1) Das Institutsgebäude war am 2. Dezember 1930, die Neurologische Klinik am 6. März 1931 fertig gestellt. 1947-91 waren in den Gebäuden Laboratorien des Instituts für Medizin und Biologie der Deutschen Akademie der Wissenschaften der DDR untergebracht. Das heute als Oscar-und-Cécile-Vogt-Haus bezeichnete Gebäude beherbergt Labor- und Büroräume für Biotechnologieunternehmen. Vgl. BusB V B, S. 214-216, 310; Bielka 2007, S. 137 ff.; Scherer, Benedikt M.: Der Architekt Carl Sattler, Leben und Werk (1877-1966), 2 Bde. München 2007; Richter, Jochen: Das KWI für Hirnforschung und die Topographie der Großhirnhemisphären. Ein Beitrag zur Institutsgeschichte der KWG und zur Geschichte der architektonischen Hirnforschung. In: Die Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft und ihre Institute. Berlin-New York 1996, S. 349-408; Bielka 2002; Satzinger, Helga/Vogt, Annette: Elena Aleksandrovna Timoféeff-Ressovsky (1898-1973) und Nikolaj Vladimirovich Timoféeff-Ressovsky (1900-1981). In: Jahn, Ilse/Schmitt, Michael (Hg.): Darwin & Co. Eine Geschichteder Biologie in Portraits II., München 2001, S. 442-560; Bielka, Heinz/Scheller, Ulrich/Krause, Annett: Museum zur Wissenschaftsgeschichte auf dem biomedizinischen Campus in Berlin-Buch, o.O., o. J. (Broschüre Berlin 2005).

(2) Rürup, Reinhard/Schieder, Wolfgang (Hg.): Geschichte der KWG im Nationalsozialismus, 17 Bde. Göttingen 2000-2008; Schmuhl, Hans-Walter: Hirnforschung und Krankenmord. Das KWI für Hirnforschung 1937-1945, erschienen in der Reihe: Ergebnisse. Vorabdrucke aus dem Forschungsprogramm Geschichte der KWG im Nationalsozialismus. Hg. von Carola Sachse im Auftrag der Präsidentenkommission der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e. V. Berlin 2000; Schmuhl, Hans-Walter (Hg.): Rassenforschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten vor und nach 1933. Göttingen 2003.

(3) Wenn ich groß bin, Mahnmal für die Opfer der Euthanasie-Morde (2000). An die Bedeutung der hier tätigen Wissenschaftler erinnern eine Gedenktafel für Timoféeff-Ressovsky und zwei Bronze-Porträts für Oskar und Cécile Vogt (von Hans Scheib, 2002). Vgl. Bielka, Heinz: Begegnungen mit Geschichte und Kunst auf dem biomedizinischen Campus in Berlin-Buch. Berlin 2004, S. 6. Ein kleines Museum in den ehemaligen Räumen der Abteilung für Experimentelle Genetik erklärt auf Schautafeln und an Hand historischer wissenschaftlicher Apparate die Geschichte des Hirnforschungsinstituts und der Akademie-Institute, u.a sind Geräte von Oskar Vogt und der Arbeitsplatz von Timoféeff-Ressovsky zu sehen.

(4) Bielka, Heinz: Streifzüge durch die Orts- und Medizingeschichte von Berlin-Buch. Berlin 2007, S. 137 ff.; Satzinger, Helga: Die Geschichte der genetisch orientierten Hirnforschung von Cécile und Oskar Vogt (1875-1962, 1870-1959) in der Zeit von 1895 bis ca. 1927. Stuttgart 1998.

(5) U. a. Abteilung für Neuroanatomie und Architektonik (Cécile und Oskar Vogt), Abteilung für Experimentelle Genetik (Nikolai W. Timoféeff-Ressovsky und Sergej R. Zarapkin), Abteilung für Neurophysiologie (Alois Kornmüller) und Abteilung für Physikalische Technik (Jan Friedrich Tönnies).

(6) Nikolai W. Timoféeff-Ressovsky (1900-1981) war der bedeutendste Genetiker seiner Zeit. In der Zusammenarbeit mit dem Physiker Karl Günter Zimmer und dem späteren Nobelpreisträger Max Delbrück (1969) entstand 1934 der wegweisende Aufsatz für eine moderne Molekulargenetik "Über die Natur der Genmutation und der Genstruktur". Sie konnten nachweisen, dass das Gen eine molekularbiologische Grundlage hatte. Delbrück verwies auf die Zusammenarbeit in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises im Jahre 1969. Vgl. Bielka 2002, S. 54.

(7) Der Leiter der Abteilung Neurophysiologie Alois Kornmüller und der Leiter der Abteilung für Physikalische Technik Tönnies nahmen das von dem Jenaer Neurologen Hans Berger entwickelte Verfahren der Hirnstrommessung auf und bauten es erheblich aus. Ein von Tönnies erfundener "Neurograph" (der erste Apparat zur Hirnstrommessung der Welt), ein Differentialverstärker, der schon mit durchlaufendem Papier und Stiften arbeitete, brachte erste wissenschaftlich relevante Ergebnisse. Vgl. Website der Deutsche Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und funktionelle Bildgebung (DGKN): www.dgkn.de/index.php, Stand Oktober 2009.

(8) Das nach dem ersten Präsidenten der KWG Adolf von Harnack benannte Prinzip beruhte auf der vollständigen Autonomie der Institutsleiter, die als herausragende Wissenschaftler berufen, von allen Lehrverpflichtungen frei gestellt wurden und in allen Bereichen der Forschungsschwerpunkte, des Personals ebenso wie beim Einsatz der Finanzmittel und bei den Institutsgebäuden frei bestimmen konnten. Vgl. vom Brocke, Bernhard/Laitko, Hubert (Hg.): Die Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft und ihre Institute, Das Harnack-Prinzip. Berlin-New York 1996. Carl Sattler hat auch sämtliche in den 1920er Jahren entstandenen KWG-Neubauten in Dahlem entworfen.

(9) Das "Pantheon der Gehirne". Vgl. Hagner, Michael: Im Pantheon der Gehirne. Die Elite- und Rassengehirnforschung von Oskar und Cécile Vogt. In: Schmuhl, Hans-Walter (Hg.): Rassenforschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten vor und nach 1933. Göttingen 2003, S. 99 ff.

(10) 1996-98 wurde das Institutsgebäude unter der Leitung des Architekturbüros Heinle, Wischer und Partner (verantwortlicher Architekt Till Behnke) saniert. Aus Kostengründen waren die Eingriffe gering und der Charakter des Hauses blieb erhalten. Es wurde im Äußeren nach Befund wiederhergestellt, der Putz musste erneuert, die Fenster konnten erhalten werden. Entstellende Anbauten wurden beseitigt, leider auch die Gewächshäuser des ehemaligen genetischen Vivariums.

(11) KWI für Anthropologie, Ihnestraße 22/24, und KWI für Physik, Boltzmannstraße 18/20, in Berlin-Dahlem.

Literatur:

  • Richter, Jochen/ Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung und die Topographie der Großhirnhemisphären. Ein Beitrag zur Institutsgeschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und zur Geschichte der architektonischen Hirnforschung. in
    Die Kaiser-Wil / Seite 349-408
  • Satzinger, Helga; Vogt, Anette/ Elena Aleksandrovna Timoféeff-Ressovsky (1898-1973) und Nikolaj Vladimirovich Timoféeff-Ressovsky (1900-1981) in
    Darwin & Co. Eine Geschichte der Biologie in Portraits II. Hrsg. von Ilse Jahn und Michael Schmitt, Münc / Seite 442-560
  • Satzinger, Helga/ Krankheiten als Rassen in
    Hans-Walter Schmuhl (Hrsg.)/ Rassenforschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten vor und nach 1933, Göttingen 2003 &in
    Medizinhistorisches Journal 37, 2002 / Seite 145-189 & 301-350
  • BusB V B 2004 / Seite 214-216 & 310
  • Die Kaiser-Wilhelm- / Max-Planck-Gesellschaft und ihre Institute. "Das" Harnack-Prinzip, von Bernhard Vom Brocke, Hubert Laitko, Berlin - New York 1996 & Bielka, Heinz, Die Medizinisch-Biologischen Institute Berlin-Buch. Beiträge zur Geschichte, Berlin 19 / Seite 105ff.
  • Topographie Buch, 2010

Kontakt

Juliane Stamm
Landesdenkmalamt Berlin
Redaktion Denkmalinformationssystem

Verkehrsanbindungen