Denkmaldatenbank
Haus Marlier, Haus der Wannseekonferenz
09075478 | |
Bezirk | Steglitz-Zehlendorf |
Ortsteil | Wannsee |
Adressen | Am Großen Wannsee 56, 58 |
Denkmalart | Gesamtanlage |
Sachbegriff | Wohnhaus & Pförtnerhaus & Gärtnerhaus & Pergola & Toranlage |
Datierung | 1914-1915 |
Entwurf | Baumgarten d. Ä., Paul (Architekt) |
Bauherr | Marlier, Ernst (Fabrikant) |
Schräg gegenüber der Einmündung der Straße Zum Heckeshorn liegt Am Großen Wannsee 56/58 das Haus Marlier, auch als Villa Minoux bekannt. Seit 1986 befindet sich hier die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz zur Erinnerung an die Judenverfolgung während der NS-Zeit und an die am 20. Januar 1942 an diesem Ort durchgeführte Konferenz zur Organisation der so genannten "Endlösung der Judenfrage".
Der Fabrikant Ernst Marlier hatte seine Wannseevilla einschließlich Pförtnerhaus, Garage, Bootshaus, Terrassenanlage, Einfriedung und Uferbefestigung 1914-15 am Rande der Kolonie Alsen auf einem ausgedehnten, ca. 30.000 Quadratmeter großen Seegrundstück erbauen lassen; ein Gewächshaus entstand 1917. (1) Der Gesamtentwurf der repräsentativen Anlage stammte von Paul O. A. Baumgarten, der als Architekt in Wannsee schon für Johann Hamspohn und Max Liebermann tätig gewesen war. Die Gebäude sind bis auf Bootshaus, Gewächshaus und Garage erhalten.
Durch eine Drahtgittereinfriedung mit Sockel und Pfeilern aus Kunststein sowie eine dichte Begrünung von der Straße abgeschirmt, liegt das einem Adelspalais gleichende Gebäude weit in der Tiefe des Grundstücks zurückgesetzt. Hinter dem aufwendig gestalteten Tor und dem rechts daneben befindlichen Pförtnerhaus gibt ein gerader Zufahrtsweg mit Wendekreis den Blick auf seine Mittelachse frei. Der Eingang mit Muschelkalkportal befindet sich unter einer überdachten Pfeilerarkade mit eingestellten ionischen Säulen. Der symmetrische Baukörper ist breit gelagert; sein neunachsiger Hauptteil zeigt zwei Vollgeschosse und ein Attikageschoss, während die beiden jeweils äußeren, vorn leicht vorgezogenen, an der Gartenseite zurückgesetzten Achsen zweigeschossig mit Dachbalustraden abschließen. Durch die Ausbildung eines dreiachsigen, konvex-konkav geschwungenen Mittelrisalits, der von Attikaskulpturen bekrönt wird, ergibt sich eine dezente Steigerung und Betonung zur Mitte hin. Die Fassaden sind durch pilasterartige Wandvorlagen monumentaler Ordnung gegliedert. Ein mächtiges Konsolgesims zwischen Obergeschoss und Attika setzt sich über den gesamten Baukörper fort und verschafft somit der Horizontale wieder den Vorrang.
Eine besondere Ausbildung besitzt die zum Rosengarten gewandte Südfassade. Durch einen eingeschossigen Anbau für Wintergarten und Loggia mit vorgeblendeter ionischer Säulenstellung und Dachterrassen mit Balustraden im Ober- und Attikageschoss des Hauptbaukörpers zeigt sie eine dreifach gestufte Terrassierung, die in Harmonie zum vorgelagerten Gartenteil steht. Die Fassaden aller Bauteile sind mit einem porösen Schleppputz versehen, Gliederungselemente und Fenstereinfassungen bestehen aus Werkstein. Der Fassadendekor ist - bis auf den reicher gestalteten Mittelrisalit der Seeseite - zurückhaltend.
Der Rückseite ist eine sich über die ganze Länge erstreckende Terrasse mit Seeblick vorgelagert. Dort wirkt das Gebäude wie ein spätbarockes Gartenpalais und damit ganz im Sinne von Paul Mebes, der das adelige Landhaus des Spätbarock und Frühklassizismus als vorbildlich für moderne Wohnbauten seiner Zeit herausgestellt hatte. (2) Gleichwohl lassen sich Parallelen im barocken Palastbau Italiens und Frankreichs finden. (3)
Das Gebäudeinnere folgt mit seinen Raumprinzipien ebenfalls dem Schlossbau des 17. und 18. Jahrhunderts. Herzstück ist eine querovale zweigeschossige Treppenhalle mit hellem Plafond, zweiläufiger Kreisbogentreppe und schmiedeeisernem Schlingbandgeländer. In der Eingangsachse folgt zur Gartenseite hin eine zweigeschossig ausgebildete Halle mit Spiegelgewölbe und Ovalfenstern, die typologisch dem barocken Gartensaal entspricht. Rechts und links schließen, gleich einer Enfilade, die mit Spolien oder mit Kopien älterer Kunstwerke ausgestatteten Gesellschaftsräume an. Links sind sie mit Herrenzimmer und Bibliothek wieder bis an die Eingangsseite geführt, rechts enden sie im Wintergarten. (4)
1921 ging die Villa Marlier in den Besitz des Kaufmanns Friedrich Minoux, Generaldirektor der Hugo Stinnes GmbH, über. (5) Sein Anwesen übernahm 1940 die dem Sicherheitshauptamt der SS (RSHA) unterstellte "Stiftung Nordhav", die hier ein luxuriöses "Gästehaus" für Offiziere der Sicherheitspolizei (SS) und Führer des Sicherheitsdienstes (SD) bereitstellte. Bis 1945 wurde das Gebäude für Arbeitstreffen und Konferenzen verschiedener Abteilungen des RSHA und als zeitweiliger Wohnsitz führender SS-Offiziere genutzt. (6) Am 20. Januar 1942 fand im friedlichen Ambiente des abgeschiedenen Anwesens mit Blick auf den Wannsee die zweistündige geheime "Staatssekretärskonferenz" statt - später "Wannseekonferenz" genannt -, in der Beschlüsse über die Organisation und planmäßige Durchführung der Ermordung der europäischen Juden gefasst wurden. Mit der Erforschung und Aufarbeitung sowie der Aufklärung über das größte Verbrechen der Nationalsozialisten ist - nach jahrzehntelanger Nutzung als Jugendheim Neukölln - seit 1983 die im Haus befindliche Bildungs- und Gedenkstätte befasst.
1) Schützler, Walter: Haus der Wannsee-Konferenz, Bauhistorische Dokumentation, i.A. der Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen, Berlin 1989; Haupt, Michael: Das Haus der Wannsee-Konferenz, Von der Industriellenvilla zur Gedenkstätte, Paderborn 2009.
2) Nicht zu Unrecht ist in diesem Zusammenhang schon auf Ähnlichkeiten zum Landhaus Kamecke von Andreas Schlüter und dessen geschwungenen Mittelrisalit hingewiesen worden. Vgl. Schützler, Walter: Haus der Wannsee-Konferenz, Bauhistorische Dokumentation, i.A. der Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen, Berlin 1989, Bd. 1, S. 40.
3) Zum Beispiel gibt es eine ähnliche Fassadengliederung an Borrominis Collegio di Propaganda Fide in Rom mit ebenfalls kräftigem Konsolgesims. Baumgarten hielt sich nach eigenen Angaben mehrfach in Italien auf, um Studien monumentaler Palastarchitektur vorzunehmen. (Vgl.: Lebenslauf, Nachlass Paul Baumgarten im Landesarchiv Berlin.) Die an Arkaden erinnernden Rundbogenfenster im Erdgeschoss sind seit Berninis Louvre-Entwurf ein wiederkehrendes Motiv im Schlossbau - in der südwestlichen Berliner Kulturlandschaft sowohl in Sanssouci als auch am Neuen Palais in Potsdam zu finden. Ein dem Adelsbau entliehener Topos ist ebenso die Verwendung der Ovalfenster am Mittelrisalit der Gartenseite; dieser ist ferner durch kannelierte Pilaster, Friese, Reliefs, Rocailles, Bandelwerk und figürliche Schlusssteine veredelt. Die eingestellten ionischen Säulen in der loggienartigen Vorfahrt bilden ein Motiv, das Baumgarten in Varianten - so auch bei der Villa Liebermann - immer wieder verwandte.
4) Das Motiv der eingestellten Säulen erscheint mehrfach auch im Innenraum, hier mit Säulenschäften aus buntem Marmor und korinthischen Kapitellen in der Treppenhalle, als Raumteiler in der gartenseitigen Halle, und - als Palladio-Motiv ausgebildet - nochmals zwischen Speisezimmer und Wintergarten. Die opulente Ausstattung mit Stuck- und Holzkassettendecken, Parkettböden, Kaminen, Intarsien, Marmorbrunnen und Marmorrelief unterstreicht den repräsentativen Charakter der Räumlichkeiten im Erdgeschoss. Die durch die Treppenhalle und eine Nebentreppe erschlossene obere Etage diente als privates Wohngeschoss.
5) Der in den 1920er Jahren zu einem führenden Wirtschaftsberater nationalkonservativer Kreise avancierte Friedrich Minoux verfügte über enge Verbindungen zu nationalistisch gesinnten Politikern; 1923 soll er sein Haus für eine konspirative Unterredung zwischen Ludendorff und Seeckt zur Verfügung gestellt haben. Er wurde 1941 wegen handelsrechtlicher Untreue und gemeinschaftlichen Betruges zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Vgl. Schützler, Walter: Haus der Wannsee-Konferenz, Bauhistorische Dokumentation, i.A. der Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen, Berlin 1989, Bd. 1, S. 12 ff.
6) Botsch, Gideon: Der SD in Berlin-Wannsee 1937-1945. In: Villenkolonien 2000, S. 70-95.
Literatur:
- Bilang, Karla: Haus der Endlösung, in: Geschichtslandschaft, Zehlendorf, 1992 / Seite 495-509
- Topographie Zehlendorf/Wannsee, 2013 / Seite 105
- Schützler, Walter: Haus der Wannsee-Konferenz, Bauhistorische Dokumentation, i.A. der Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen, Berlin 1989 / Seite 12ff, 40
- Botsch, Gideon: Der SD in Berlin-Wannsee 1937-1945, in: Villenkolonien 2000 / Seite 70-95
- Haupt, Michael: Das Haus der Wannsee-Konferenz, Von der Industriellenvilla zur Gedenkstätte, Paderborn 2009 / Seite .
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