Denkmaldatenbank

Kirche am Lietzensee

Obj.-Dok.-Nr. 09040507
Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf
Ortsteil Charlottenburg
Adressen Herbartstraße 4, 5, 6
Denkmalart Gesamtanlage
Sachbegriff Kirche & Gemeindehaus
Datierung 1930-1931, 1950, 1957-1959
Entwurf Baumgarten, Paul (Architekt)
Entwurf Straumer, Heinrich & Glaser (Architekt)
Bauherr Lietzenseegemeinde
Ausführung Schmidt und Co.

Die Evangelische Kirche am Lietzensee und das dazu gehörende Gemeindehaus, Herbartstraße 4-6, stammen sichtlich nicht aus derselben Bauepoche. (1) Anders als das schlichte Gemeindehaus, das 1930-31 nach Entwurf von Heinrich Straumer erbaut, im Zweiten Weltkrieg beschädigt und 1950-51 unter Baurat Glaser wieder hergestellt wurde, überstand die erste Kirche am Lietzensee, die bereits 1919-20 nach Entwurf von Erich Blunck als holzverschalter Fachwerkbau errichtet worden war, den Krieg nicht. (2) An ihrer Stelle entstand 1957-59 die heutige Kirche nach einem im Wettbewerb 1956 preisgekrönten Entwurf von Paul G. R. Baumgarten, der damit ein richtungsweisendes Gotteshaus für den Kirchenbau der Nachkriegsmoderne schuf. Die protestantische Liturgie erforderte den Zentralraum, die Metapher des Zeltes war in dieser Zeit prägend für zahlreiche Kirchenneubauten. (3) Für den einzigen Kirchenbau in seinem Oeuvre wählte Paul Baumgarten einen zeltförmigen Baukörper über fünfeckigem Grundriss, der einen weit gespannten, stützenfreien Innenraum bildet. Dieser klar gegliederte Andachtsraum gibt durch Glasflächen an vier Seiten den Blick auf den Lietzensee-Park frei und vermittelt zugleich durch die gefalteten, einheitlich mit Lärchenholz verkleideten Dach- und Wandflächen Geborgenheit und die Konzentration auf den Altarbereich. (4)

Durch eine Mauer abgeschirmt, wendet sich die Kirche mit einer geschlossenen, nach oben sich verjüngenden Betonwand über dem Eingangsbereich zur Straße. Diese Stirnwand schließt eine vom Kreuz bekrönte, offene Glockenkammer oben ab - so konnte auf einen Turm verzichtet werden. In der Seitenansicht des Gebäudes wird die Dachkonstruktion erkennbar: Von drei kupfergedeckten, segelförmigen Stahlbeton-Deckenplatten sind die beiden äußeren bis zum Boden herabgezogen, sodass im Inneren der Übergang zwischen Decke und Wand verschliffen und der Altarbereich in der Spitze des Fünfecks zeltartig überspannt wird. Die beiden Stirnwände aus farblosem Strukturglas bilden mit ihrem Ausblick auf die Landschaft einen diffusen, nach Jahreszeiten und Lichtverhältnissen wechselnden Hintergrund für den um drei Stufen erhöhten Altarbereich mit Tisch und Kreuz, Kanzel und Taufbecken. Das Motiv der Kirche als Zelt wird zusätzlich betont durch den vom Eingang zum Altar leicht abschüssigen, mit Solnhofener Platten belegten Fußboden, der an den Außenrändern in einen flachen Wall aus Feldsteinen übergeht und den Bau wie auf gestampfter Erde stehend wirken lässt. In Wahrheit hat er auf dem steil zum Lietzensee abfallenden Gelände ein Untergeschoss, wo Funktionsräume für die Gemeinde untergebracht werden konnten. Über dieses weit auskragend erscheint der verglaste Kirchenraum vom See aus wie ein Schiffsbug, schwebend über dem Abhang.

Das benachbarte Gemeindehaus hatte Heinrich Straumer, der bereits 1929 mit dem Bau eines Glockenturms für die erste Kirche betraut worden war, 1930-31 unmittelbar an den Holzbau angeschlossen; bis heute ist der Abdruck des Kirchengiebels noch an der Stirnwand erkennbar. Baumgarten rückte seine Kirche jedoch deutlich ab von dem Gemeindehaus, einem konservativ gestalteten, zweigeschossigen Putzbau mit Ziegelsockel und hohem ausgebautem Walmdach, der als nach Süden offene dreiflügelige Anlage angelegt ist. Im Untergeschoss gibt es einen großen Saal, in den oberen Geschossen Räume für die Gemeinde, Konfirmandensäle und Kindertagesstätte. (5)


(1) Evangelische Kirche am Lietzensee in Berlin. In: BW 50 (1959), S. 1406-1408; Kirche von heute. In: Krämer Architekturwettbewerbe, Stuttgart 1959, H. 27, S. 32-33; A + W 67 (1959), S. 32 f.; Design 4 (1960), Nr. 8, S. 16; Eglise évangélique du Lietzensee, Berlin-Charlottenburg. In: L'Architecture d'Aujourd'hui 32 (1961), Nr. 96, S. 32-33; Kunst und Kirche 23 (1960), H. 1, S. 12-16; Neubau einer Kirche am Lietzensee-Charlottenburg. In: Baukunst und Werkform 14 (1961), H. 3, S. 129-131; Church by the Lietzensee, Berlin Charlottenburg. In: Architectural Design 31 (1961), H. 1, S. 28; Kirche am Lietzensee in Berlin-Charlottenburg. In: Deutsche Bauzeitschrift 1961, H. 10, S. 1363-1366; Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin, Stadt und Bezirk Charlottenburg, bearb. von Irmgard Wirth, Text- u. Tafelband, Berlin 1961, S. 103-106, Abb. 80-81; Informes de la Construcción, Spanien 1964, o. S.; Rave, Rolf/Knöfel, Hans-Joachim: Bauen seit 1900 in Berlin, Berlin 1968, Obj. 159; Kühne, Günther/Stephani, Elisabeth: Evangelische Kirchen in Berlin, Berlin 1987, S. 40-42, 346; Kühne, Günther u.a.: Paul Baumgarten. Bauten und Projekte 1924-1981 (Schriftenreihe der Akademie der Künste. Bd. 19), Berlin 1988, S. 6, 44 f., 180 f.; Maultzsch, Matthias: Am Lietzensee, Teil 2: Der Weg einer evangelischen Kirchengemeinde seit 1945, Berlin 1988; Wörner, Martin/Mollenschott, Doris/Hüter, Karl-Heinz: Architekturführer Berlin, 6. Aufl., Berlin 2001, S. 176; Architekten- und Ingenieur-Verein zu Berlin (Hrsg.): Berlin und seine Bauten, Teil VI, Sakralbauten, Berlin 1997, S. 217 f., 417; Wittmann-Englert, Kerstin: Zelt, Schiff und Wohnung, Kirchenbauten der Nachkriegsmoderne, Lindenberg im Allgäu 2006, S. 34 f., 119; Baukunst der Nachkriegsmoderne, Architekturführer Berlin 1949-1979, hrsg. v. Adrian von Buttlar, Kerstin Wittmann-Englert, Gabi Dolff-Bonekämper, Berlin 2013, S. 14 f.

(2) Die Gemeinde am Lietzensee wurde 1913 als Filiale der Epiphanien-Gemeinde Charlottenburg (Filiale der Luisen-Gemeinde seit 1904) gegründet und erhielt 1915 nach Erwerb des Baugrundstücks ihren Namen. Durch den Ersten Weltkrieg wurde ein Kirchenneubau verhindert, erst 1919 konnte die Gemeinde ihr Gotteshaus als eine der ersten Notkirchen in Berlin errichten. Zum Holzbau von Erich Blunck siehe: Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin, Stadt und Bezirk Charlottenburg, bearb. von Irmgard Wirth, Text- u. Tafelband, Berlin 1961, S. 104 f.; BusB VI, S. 135 f., 398.

(3) Zu Kirchenbauten der Nachkriegsmoderne und zum Thema "Kirche als Zelt" als Metapher für die Pilger- und Wanderschaft des Gottesvolkes siehe: Wittmann-Englert 2006, S. 17 ff.

(4) Der Architekt Paul Gotthilf Reinhold Baumgarten (1900-1984), der nach dem Studium in Danzig und Berlin 1924-28 im Büro von Mebes & Emmerich arbeitete, wurde in Berlin vor allem durch den Bau des Konzertsaals der Hochschule der Künste (1949-54, s. Hardenbergstraße 33-34) und den Wiederaufbau des Reichstags (1961-69) bekannt. Weitere Werke in Charlottenburg: Müllverladestation und Fuhrhof der Berliner Müllabfuhr 1932-36 (s. Helmholtzstraße 42), Umbau Hotel am Zoo 1950-73 (s. Kurfürstendamm 25), Haus der Ruhrkohle AG 1957 (s. Bismarckstraße 107). Vgl. Kühne, Günther u.a.: Paul Baumgarten. Bauten und Projekte 1924-1981 (Schriftenreihe der Akademie der Künste. Bd. 19), Berlin 1988.

(5) Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin, Stadt und Bezirk Charlottenburg, bearb. von Irmgard Wirth, Text- u. Tafelband, Berlin 1961, S. 105.

Literatur:

  • Inventar Charlottenburg, 1961 / Seite 103-106 mit Literatur
  • Rave, Knöfel/ Bauen seit 1900 / Seite Obj. 159

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Juliane Stamm
Landesdenkmalamt Berlin
Redaktion Denkmalinformationssystem

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